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Johanniskraut am 24. Juni, dazu Frauenmantel, auf dessen Blätter Wassertropfen abgelegt sind, Wildrosen neben zart-lila Storchschnabel, die gelben Taglilien rahmen den kleinen Teich. Das Wetter zieht alle Register, gewittrig polternd gegen Abend, schwül heiß am Tag und zwischendrin ein laues Lüftchen. Fünfzehn Pfarrkolleg*nnen sind in inneren und äußeren Landschaften unterwegs, schreibend und pilgern.

Meine Worte sind Wurzeln mit Flügeln, das Gedicht von Hilde Domin ist unsere Spur. Wir graben nach Wurzeln, die uns hervorgebracht haben und entdecken auch die, die uns geistlich genährt haben. In welchem Boden haben sie sich entwickelt? Waren die Wurzeln tief und fest oder wuchsen sie an der Oberfläche? Welche Nährstoffe sind durch sie in den Stamm und schließlich die Krone aufgenommen worden?

Beim Schreiben taucht Tante Erna mit ihrer Flanell-Tafel auf, auf der Jesus zum Zöllner Zachäus auf dem Baum hinaufschaut, der Küster, der erlaubte, mit den Münzen der Kollekte zu spielen- und selbstverständlich darauf drang, das sie später wieder abgegeben werden mussten. Das Gute-Nacht-Gebet, das um die Gebetsbitte für die kranke Nachbarin erweitert wird Erst später, im Studium, wird erkennbar, dass der eine oder andere ein klarer Barthianer war oder theologisch woanders verwurzelt war. Als Kind spielte es keine Rolle. Alle Geschichten sind plötzlich da und füllen den Raum. Die DNA des Glaubens hat ein Gesicht. Sie ist eher selten zwischen gelehrten Buchdeckeln zu finden. Sie ist mitunter verschroben und witzig und immer wieder spielt die Begegnung mit konkreten Menschen eine Rolle.

Wir sind der Natur auf der Spur und damit uns selbst- oder vielleicht andersherum? Auf jeden Fall sind wir unterwegs mit unseren Sinnen, die sich jeden Tag spürbar schärfen. Der Wortschatz erweitert sich, genauso wie das Bildrepertoire- Flach-, Tief- und Herzwurzler gibt es, wer hätte das vorher schon so sicher trennen können? Worte der Bibel werden reicher, farbiger. Denn er gab mir sichere Erkenntnis dessen, was ist, sodass ich den Bau der Welt begreife und das Wirken der Elemente (Weisheit 7,17). Erkenntnis, von Gott geschenkt, ist auch Erkennen von zusammenhängen, der Natur, meiner Natur. Der deinen Mund wieder fröhlich macht und du wieder jung wirst wie ein Adler (Jesaja 40, 31) Welche Transformation steckt dahinter? So oft gelesen, für andere gedeutet- aber für mich selbst? Es ist ein Bild der Krise, im wahrsten Sinne des Wortes geht es um Tod oder Leben. Da spitzt sich ein Zustand zu bis zu dem Punkt, wo er zur einen oder zu anderen Seite kippt. Das Leben steht auf der Kante. Hinter dem Psalm steckt eine weise Naturbeobachtung: Der Adler kratzt seine letzten Kräfte zusammen und schlägt die alten Flügel ab, wetzt den verklebten Schnabel, bis er sich wieder öffnen lässt. Eine beeindruckende Lebensgeschichte: Mit der Lebenserfahrung des Alten und den Lebenskräften der Jugend lässt sich am Leben wieder anknüpfen. Das ist die Powermischung der Stärke, die nur und durch eine Krise gewonnen wird.

 Auf einmal sehen wir überall Flügel. Die Schulterblätter als Flügel Knospen, die Flügel des Schlosses in Aschaffenburg. Alles ausgebreitet, beschirmend und beschützend.

Der Kollege, der am ersten Tag ganz in schwarz kam, hat wenige Tage später ein dunkelblaues Hemd an, „meine Frau würde das jetzt mit den Worten kommentierten: Du hast dich heute aber was gewagt, so bunt“, erzählt er und aus ihm blitzt auf einmal eine heitere Selbstironie-

Die Woche hier, ein Symbol, wie Kirche sein kann, könnte, so sagt es einer am Ende. Offen, sich verletzbar zeigen, lässt ich auf sich selbst ein und auf die anderen und auch auf Gott, bringt Kompetenzen und Freude ein.

Sich offenbaren und zeigen ist nicht nur eine besondere Qualität Gottes, auch eine des Menschen. Wenn der Mensch dann noch dazu Kolleg*in ist, kann das nicht hoch genug geschätzt werden. „Ach“, sagt eine, „wir waren so geistlich unterwegs. Nicht immer explizit, sondern auch zwischen den Zeilen.“ Ja, sich auf die Suche machen mit anderen macht lebendig. 

Am vorletzten Abend trauen wir uns auf die Tanzfläche. Wie Kraniche heben wir die vom Pilgern müden Beine und in dem ein oder anderen Gelenk knackst es bedenklich. Doch Sitzgymnastik planen wir frühestens in zehn Jahren, dann sind die letzten von heute auch im Ruhestand. Für heute leihen wir uns die Überschrift von Rose Ausländer: Nicht fertig werden. Wir sind noch nicht fertig, mit uns, mit den anderen, mit der Kirche. Und mit dem Glauben noch lange nicht.

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