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Meine Tochter hat morgen ihre mündliche Abiturprüfung in Religion- vor ein paar Tagen hat sie mich gebeten, mit ihr noch einmal durch den Stoff durchzugehen. Sie nahm also ihren Ordner und zwischen dem historischen Jesus und den mittelalterlichen Gottesbeweisen hatte sie auch ein paar Blätter, in denen es um die Botschaft Jesu ging. Ich kenne sie nun nicht als Gottesdienstgemeinde, deshalb bin ich jetzt etwas vorsichtig, ihnen wiederzugeben, wie meine Tochter mit ihrer etwas rauen Jugendsprache diese Geschichte mit wenigen Strichen skizzierte. Ich beschränke mich hier auf das Ende unseres Gesprächs. Ich sagte zu ihr: Was ist denn jetzt die Aussage von dem Gleichnis, deiner Meinung nach? Worauf kommt es an? Und sie sagte: ist doch logisch: Gott ist die Liebe.

Gott ist die Liebe. Ja. Das kommt einem ja schnell über die Lippen, in Kirchen und in Pfarrershaushalten eh. Und es ist sicher nicht ganz falsch, sondern ein Teil dieses Gleichnisses. Aber: Wenn dieses Gleichnis so einfach wäre, dann hätten sich vermutlich nicht so viele Maler, Schriftstellerinnen und Theologen mit diesem Gleichnis befasst. Es hat in der Kunstgeschichte eine unglaubliche Menge an Kunst, an Auseinandersetzung hervorgebracht- das ist eher ein Zeichen für eine Dynamik, die in dem Gleichnis enthalten ist. Es ist eben nicht nur ein Gleichnis über die Liebe Gottes, sondern – ja, worüber?

Die einen sagen, es geht um den jüngeren Bruder, der sich sein Erbe auszahlen lässt. Der nicht verantwortungsvoll damit umgeht, schließlich am Ende auf der Straße landet, sich dann sagt: Bei meinem Vater ginge es mir besser und sich erst dann reumütig entschließt, zu seinem Vater zurück zu gehen. Dieser -anstelle ihm eine lange Predigt zu halten- nimmt ihn in die Arme und nimmt die Rückkehr des Sohnes zum Anlass, ein großes Fest zu veranstalten.

Die anderen sagen: es geht um den älteren Bruder. Um seinen berechtigten Ärger und Zorn. Er, der angepasste Sohn, arbeitet, er bleibt beim Vater, er macht ihm keine Mühe, noch fordert er etwas. Er geht am Ende leer aus, weil sich alles um den Bruder dreht. Für ihn wird kein Ochse geschlachtet, noch nicht mal eine Ziege. Er ist der Dumme- der Angepasste, der dadurch ins Abseits gerät.

Die dritten sagen: es geht um den Vater. Um seine unbedingte Liebe. Um seine Bereitschaft, Fehler zu vergeben. Und einen vermeintlichen Sünder wieder in die Arme zu schließen.

Diese verschiedenen Perspektiven lassen schon erahnen: es geht nicht so sehr um die reine Liebe, sondern eine Liebe, die Konflikte provoziert- oder auch offen legt. Je nach Perspektive.

Die Faszination dieses Gleichnisses liegt darin, dass es einen Grundkonflikt thematisiert. Es ist ein alter Konflikt zwischen Liebe und Gerechtigkeit. Wenn dieser noch dazu in einer Familie stattfindet, dann wird es eng. Wer zu Hause Kinder hat oder selbst ein Geschwisterkind ist, kennt vermutlich diese Konflikte. Wieso bekommt der eine mehr und der andere weniger? Oder das gleiche, obwohl er oder sie nicht soviel getan hat? Erbstreitigkeiten beruhen oft genau auf diesem Grundkonflikt: Hat der eine sich um die alten Eltern gekümmert, hat der andere nur ein kleineres Anrecht auf das Erbe? Schenkt man dem einen Kind mehr Unterstützung, weil ich der Meinung bin, es braucht diese, kann es sein, dass dieses Verhalten Jahre später als Vorwurf zurück kommt.

Gehen wir nochmal ein Stück zurück und schauen uns den Aufbau dieser Geschichte noch einmal genau an. Sie fängt ja genau genommen mit dem ersten Vers der Lesung vorhin an: es nahten sich ihm aber allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Schriftgelehrten und Pharisäer murrten und sprachen. Bevor die drei Gleichnisse, vom verlorenen Schaf, vom verlorenen Groschen und dann vom verlorenen Sohn kommen, bildet ein Konflikt den Ausgangspunkt: Hier die Zöllner und Sünder, sie hören! Sie empfangen, sie hören zu, sie lassen sich etwas sagen, sie nähern sich Jesus- und dort: die Schriftgelehrten und Pharisäer, sie murren, schaffen Distanz, lehnen ab. Schon also wie Lukas diese Geschichte beginnt, wird die enorme Grundspannung deutlich. Sie gipfelt in dem Satz der Pharisäer: Jesus nimmt sich der Sünder an und isst mit ihnen!

Nun folgen die drei Gleichnisse. Im Gleichnis vom verlorenen Schaf geht es um den Verlust eines nicht unwesentlichen, aber doch relativ kleinen Verlustes von Besitz: 1 von 100 Schafen ist verloren. Für die Frau im zweiten Gleichnis steht mehr auf dem Spiel: ihr geht 1 von 10 Drachmen verloren. Der Vater hingen verliert einen von zwei Söhnen. Lukas führt uns also mit der Geschichte in eine immer größere Dynamik hinein.

Lukas treibt also schon mit dem Aufbau der Gleichnisse uns als Hörer*innen in einen harten Konflikt hinein: Entweder der eine Sohn oder der andere. Entweder hat der eine Recht oder der andere. Lukas erzählt in diese Eskalationsstufe hinein, die vermutlich die meisten aus Konflikten kennen: Entweder stellst du dich auf die eine Seite oder auf die andere, wer nicht für mich ist, ist gegen mich. An dieser Stelle ist die Frage: Was ist eigentlich außer Verhärtung noch möglich? Gibt es einen Weg aus dieser Konfliktspirale?

Der jüngere Sohn bringt sein Erbteil durch. Die Geschichte erzählt das überhaupt nicht moralisch, sie wertet das nicht. Es wird an keiner Stelle gesagt, dass das Streben nach Autonomie dieses Sohnes fragwürdig ist oder notwendig ins Elend führt. Es ist die Hungersnot, also nichts, was er selbst verschuldet hätte, die ihn zu Boden wirft.

Erst als der Jüngere Sohn im Elend sitzt, zwischen den Schweinen, beginnt er seine Situation zu bewerten. Und zwar zuallererst nicht mit Reue, sondern mit einer Einsicht: Es ist als würde er zu sich selbst sagen: Wie dumm kann ich sein? Bei meinem Vater ging es mir besser. Und erst dann kommt der Gedanke, dass er zurück gehen könnte und erst dann das Eingeständnis, mit dem er zurückkehrt: Vater ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Und er will sich zum Tagelöhner verdingen.

Und jetzt geschieht etwas Interessantes: Der Vater sieht ihn von weitem kommen, läuft ihm entgegen und als der Sohn sagt, ich bin es hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn genannt zu werden, da geht der Vater nicht auf diese Selbstabwertung ein, sondern handelt einfach: Bestes Gewand, Ring, Schuhe, gemästetes Kalb.

Der ältere Sohn erfährt von all dem nichts. Oder zumindest nicht von seinem Vater. Er hört es singen und tanzen, die Knechte, die er fragen muss, was da los ist, setzen ihn ins Bild. Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn. Dieser kleine Satz zeigt: es ist der ältere Sohn, den der Vater gerade zu verlieren droht. Es geht nicht um einen Sohn, der verloren ist, sondern um beide. Den einen verliert er beinahe, weil er sich vor der Zeit aus der Familie löst und nicht mehr als Sohn zurück kommen will, den anderen verliert er beinahe, weil der so verletzt ist, dass er sich zurück zieht und erst wieder hineingerufen werden muss. Da fehlt doch noch einer….So könnte die Überschrift über dem Gleichnis lauten. Es ist der ältere Sohn, der an dem Tisch fehlt, ohne den das Fest kein Fest sein kann.

Dieses Gleichnis rührt an sehr elementaren Fragen:

Wann kann ich mich von Herzen mit jemanden anderen mitfreuen?

Wann behindert mich meine Missgunst, um in einen ehrlichen Kontakt zu andere zu gehen?

Wo haben meine Verletzungen Platz? Wo meine Bedürfnisse?

Es sind sehr grundlegende Fragen, die in diesem Gleichnis gestellt werden. Und wir stellen sie beileibe nicht nur in unseren Familien oder persönlichen Lebenszusammenhängen. Diese Fragen spielen überall dort eine Rolle, wo Menschen zusammen leben und arbeiten. Ob das in der Schule ist, am Arbeitsplatz oder auch in unserer Gesellschaft. Es ist auch die Frage, wo stelle ich eigene Bedürfnisse so in den Mittelpunkt, dass ein gemeinsames Leben nicht möglich ist? Dies machen nämlich beide Söhne. Der Jüngere durch seine Selbstabwertung, der Ältere durch seine Missgunst.

Die Bewegung des Vaters geht trotz der Unterschiedlichkeit der Söhne bei beiden in eine ähnliche Richtung. Dem einen geht er entgegen, den anderen bittet er hinein. Beide Schritte dienen demselben Zweck: Seine Söhne an ihre Selbstverantwortung zu erinnern. Du Sohn, zerfließe nicht vor Selbstmitleid und Selbstabwertung. Du bist deinem Freiheitsbedürfnis gefolgt und es ist anders ausgegangen, als du dir es gewünscht und erhofft hast. Das passiert im Leben. Ich bleibe dabei. Ich will dich als Sohn und nicht als Tagelöhner. Meine Beziehung zu dir ändert sich dadurch nicht. Mir gegenüber brauchst du dich nicht abwerten.

Dem andern sagt er: Du hältst dich selbst gefangen in deinem Trotz und deiner Missgunst. Du verlierst aus dem Blick, was du hast und was ich mit dir teile. Du bist nicht weniger Sohn, weil ich dem anderen der Vater bleiben will. Auch du hast eine Verantwortung für dich selbst, ob du die Gemeinschaft aufkündigst oder nicht.

Gott ist die Liebe. Ja, aber keine rührselige Liebe, die blind ist und den anderen als abhängigen Menschen in seiner Abhängigkeit belassen will. Gottes Liebe ist umsichtig, sie ruft Menschen in ihre Selbstverantwortung und in die Veränderung. Es ist kein: Ich liebe dich und bleib wie du bist, sondern Ich liebe dich, du darfst wachsen! Man mag meinen, dies hätten die Sünder und Zöllner besser verstanden als die Schriftgelehrten und Pharisäer. Ihre inneren Widerstände kommen offensichtlich nicht so reflexartig zum Vorschein wie bei denen, die meinen, sie würden immer schon alles richtig machen.

Ich meine, dieses Gleichnis packt uns bei unserer Selbstgerechtigkeit und unserer Komfortzone, in der wir uns gut eingerichtet haben. Und in der Steigerung, mit der diese Geschichte erzählt wird, heißt das auch: Es gibt etwas zu verlieren. Es geht um nichts weniger als die Gemeinschaft mit anderen und die Gemeinschaft mit Gott. Dort, wo wir uns nicht mehr nach unsren Anteilen, nach unserer Verantwortung fragen.

Ich liebe dich, du darfst wachsen! Das ist die Zusage Gottes. Bezeichnenderweise erzählt Lukas nicht, wie sich die Söhne entschieden haben. Es ist als würde Lukas uns dieses offene Ende entgegenhalten und sagen: Und jetzt du….

Gottesdienst Lutherkapelle Gießen, 16. Juni 2024

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