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Wenn man in Indien ist, so sagt der junge katholische Priester zu mir, dann denkt man alles von der Einheit her. So viele Religionen sind hier versammelt, dass erst von der Einheit her die Unterschiede bedacht werden sollten.  In Indien gehören 2% der Bevölkerung einer der christlichen Kirchen an. Wenn die christliche Gemeinde ihre Arbeit tut, für und mit denen, die Hilfe und Unterstützung brauchen, dann fragen sie nicht nach der Religion der anderen, ihre Schulen, ihre Krankenhäuser sind für alle offen. Sie sagen: Jesus ist unser role model. Er hat es uns vorgemacht. So sollen wir leben. Geh hin und tue desgleichen (Lukas 10, 37), dieser Satz ist ihr unausgesprochenes Motto.

Der Sekretär des Bischofs ist ein Sikh, erkennbar an Turban und Bart. An einem Tag lotst er uns durch den Goldenen Palast von Amritsar, dem Heiligtum der Sikhs. Auf dem Weg dorthin durchqueren wir Pilgergruppen. Sie kommen aus ganz Indien, und, so wie wir erkennbar an unsere Hautfarbe, den Sachen, die wir tragen, vielleicht auch mit der scheu-neugierigen Vorsicht, mit der wir alles beobachten auf dem Westen.  Bevor man in den Goldenen Tempel eintritt, ziehen alle Besucher die Schuhe aus und geben sei in einer Garderobe für Schuhe ab. Dann laufen wir durch ein schmales Wasserbett und können eine der vier Treppen hinuntergehen, die in den Innenhof der Tempelanlage führt. Um ein Wasserbecken herum läuft eine Art Kreuzgang, ein überdachter Weg. Die vier Treppen, erklärt uns M., stehen für die vier Himmelsrichtungen. Menschen aus allen vier Himmelsrichtungen sind willkommen. Und die Treppen führen herunter, weil jeder Mensch sein Ego oben lässt. Hier, im Heiligtum sind wir Menschen. Alle gleich. 
Mit dem Uhrzeigersinn laufen wir die 200 Meter lange Seite der Anlage ab. Gegenüber dem Tempel befindet sich der “Healing Dip”, eine Einstiegsstelle in das Wasser. Eine Einstiegstelle für die Männer, ein geschützter Einstieg für die Frauen. Wasser heilt, reinigt. Die Menschen, die hier ins das Wasser steigen suchen danach. Wasser als Symbol der Reinigung, innerlich und äußerlich, ist in vielen Religionen bekannt. Der Wunsch nach Wiederherstellung, nach Lebensfrische scheint ein universaler Wunsch zu sein.
Steigt man von dort einige Treppen hoch, läuft wieder durch ein Wasserbad und kommt zu einer ine großen Halle, in der eine vegetarische Mahlzeit, Langer, eingenommen werden kann. Hier werden täglich bis zu 100.000 Menschen verpflegt. Mit Reis, Dal und Chapati. Sie erhalten am Eingang einen Blechteller, setzten sich einen Raum weiter auf eine lange Matte, die auf dem Boden ausgerollt ist und Freiwillige verteilen das Essen. Hier kann jeder essen, jeder ist eingeladen. So könnte die Speisung der 5000 ausgesehen haben, von der in der Bibel erzählt wird. In der Küche sehen wir, was dies bedeutet: Große Töpfe, in denen 100 kg Reis auf einmal gekocht wird. Sie haben die Größe von Kinderplanschbecken, die man im Garten aufstellt. Jeder kennt seinen Platz, wo er im Topf zu rühren hat oder mit einem 10 l Eimer Kokosnussmilch in den Topf gießt. Keine Hektik, keine lauten Gespräche, das Einzige, was Lärm macht, sind die Maschinen, die irgendwo zur Reparatur eingesetzt sind. Zwischen diesen großen Töpfen läuft ein Mann umher. In der Hand hält er einen Teelöffel Kurkuma. In welchem Topf wird dieser Löffel einen Unterschied machen? Salz der Erde.  Kurkuma der Welt.

In einem weiteren Saal befindet sich die Backstube. An sechs großen Tischen knien vorwiegend Frauen und rollen Chapati Teig aus. Unsere Chapatis gleichen mehr Eiern, statt runden Tellern. Sie kommen trotzdem in den Ofen und jemand wird später einen chapatiessen, der uns Fremde miteinander verbindet.  Die Arbeit wird von Freiwilligen übernommen, manche kommen jeden Tag, manche einmal in der Woche, andere seltener. Wie das Essen scheinen auch immer die Freiwilligen ausreichend zu sein, um an diesem besonderen Platz einen Dienst füreinander zu übernehmen. 

Im Schatten des Tempelganges haben sich Menschen zum Schlafen hingelegt. Frauen und Männer, die Kinder stehen am Rand des Wassers und schauen auf das ruhige Treiben. Über eine Brücke erreicht man in der Mitte das begehbare Heiligtum. Zwei Stunden Zeit braucht man, um eintreten zu können. 

Als wir nach unserem Besuch unsere Schuhe holen, hat uns die Stadt wieder. Hupen, Gedrängel und viel Leben empfangen uns. Die Ruhe des Goldenen Tempels bleibt. Für eine kleine Zeit haben wir erlebt, wie ausreichend es ist, gesättigt zu werden, einen sicheren Ort zum Ruhen zu haben, gereinigt und belebt worden zu sein. Ein Mensch zu sein, wie andere auch: Nur einer. Von vielen. Von allen. 

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