Skip to main content

Gottesdienst 75 Jahre Notkirche Pankratiuskapelle, Gießen

Und du sollst heißen: „Der die Lücken zumauert, und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne.“(Jesaja 58, 7-12)

Als am 6. Dezember 1944 die britischen Bomber über Gießen ihre Angriffe flogen, und das Bombardement über 80% der Altstadt zerstörte und dem Boden gleich machte, wurde auch die Stadtkirche, die hier stand, zerstört. Fortan lief jedes Kind an den Trümmern vorbei, das die Bombenabwürfe verursacht hatte.

Die Bombenabwürfe galten einem Deutschland, das nicht nur den zweiten Weltkrieg begonnen hatte, sondern in der Folge für einen unvergleichlichen Holocaust, der Ermordung von Millionen Juden verantwortlich war. Es galt, einen Krieg gegen ein menschenverachtendes System zu gewinnen.

Es war dem Weltrat der Kirchen in Genf zu verdanken, dass er 1947 Geld für sogenannte Notkirchen zur Verfügung stellte. In diesem Weltrat trafen sich Vertreter der weltweiten Christenheit, der Architekt dieser Kirche, Otto Bartning notierte dazu im Rückblick: Im November 1947 aber, als ich gerade in Berlin war, ereilte mich telefonische Nachricht: Der „Weltrat der Kirchen in Genf“, „Lutheran World Federation“, „Evangelical and Reformed Church“, „Presbyterian Church“ und „Schweizer Hilfswerk“ haben 40 Notkirchen, 40 mal 10 000 $ gestiftet.

Es war also ein Zeichen von internationaler Solidarität, dass der Kirche in Deutschland Geld zur Verfügung gestellt wurde, um einen Wiederaufbau von Kirchen voranzutreiben. Und ich denke, das ist ein erster Punkt, der festgehalten werden sollte, wenn wir heute 75 Jahre Pankratiuskapelle in Gießen feiern: Der Bau, der Wiederaufbau der Kirche war möglich, weil es eine solidarische Bewegung mit dem zerstörten Deutschland gab. Weil andere wussten, dass ein Wiederaufbau nur gelingen kann, wenn auch geistliche Zurüstung, um mal dieses alte Wort zu nehmen, Raum bekommt. Wichtig im Hinblick darauf, weil wir auch heute immer wieder fragen, ob Deutschland überhaupt, und wenn ja in welcher Weise, solidarisch mit der Not von Menschen, die durch Krieg und wirtschaftliches Elend verursacht wird, umgehen sollte? Oder ob sich die Solidarität nur an die Nächsten richtet, an die Not, die unmittelbar vor Augen steht. Der Weltrat der Kirchen in Genf hat sich damals anders entschieden. Dies ist umso bemerkenswerter, als dass die Reaktion im Nachkriegsdeutschland im Bezug auf die Gräueltaten, die im Namen des deutschen Volkes verübt wurden, im Schweigen, Verdrängen und Leugnen bestand.

Die Pankratiuskapelle verdankt sich einem solidarischen Akt, einem Geschenk, einer finanziellen Unterstützung, keinem „das haben wir mit eigenen Händen erarbeitet“. Im Gegenteil, da wurde uns etwas in die leeren Hände gelegt.

Der Architekt Otto Bartning, der diese Notkirchen entworfen hat, hat viel darüber nachgedacht, wie sich eine Gemeinde nach einer Katastrophe wieder zusammenfinden kann. Er hat dazu bedenkenwerte Impulse notiert. Die- und das ist noch bemerkenswerter- den Gedanken ähneln, die wir vorhin in der Schriftlesung gehört haben.

Springen wir 2500 Jahre zurück. Die Babylonier hatten Jerusalem erobert, sie hatten die jüdische Oberschicht nach Babylon deportiert. Als grob gesagt 200 Jahre später die Perser die Babylonier besiegten, da ließen diese die Oberschicht nach Jerusalem zurückziehen. Die Oberschicht, die über mehrere Generationen im Exil gelebt hatten, kehrte zurück. Statt prunkvoller Umgebung stießen sie ihre Füße an Trümmern des Tempels.

Sie beklagen ihr Schicksal, sie fasten, feiern Gottesdienste, sie wollen ein Zeichen, dass Gott ihnen nahe ist. Der Prophet Jesaja findet harsche Worte. Sie tun so, als wären sie ein Volk, dass die Gerechtigkeit schon getan hätte! Weit gefehlt!

Jesaja fordert die Israeliten zur konkreten Solidarität auf: Den Obdachlosen ein Dach geben, die Nackten kleiden, den Hungrigen satt machen. Das Gerechte tun- Jesus wird es später vielfach aufgreifen. Dann erst, so sagt Jesaja, wird dein Licht in der Finsternis aufgehen. Mit anderen Worten: Erst wenn du dich anderen zuwendest, wird sich deine eigene Situation ändern. Der Prophet hält den Israeliten einen Spiegel vor: Du rufst, du beklagst dich vor Gott- du kreist um diene Sorgen und es kümmert dich nicht, wie es demjenigen geht, der neben dir lebt. Dich kümmert nicht, in welchem Elend er lebt. Du bist einzig und allein nur mit dir beschäftigt. Was Jesaja hier fordert, ist nichts anderes als eine Veränderung der Gesinnung, der Haltung: Schau nicht nur auf dich. Schau raus in die Welt. Sei solidarisch, lindere Not, vertraue auf Gott. Dann wirst du die Erfahrung machen, dass Gott dich sättigt, auch im dürren Land. Dann wirst du die Erfahrung machen, dass du Not lindern kannst, dann wirst du Maurer genannt werden (Einheitsübersetzung), der Risse ausbessert, der die Ruinen wieder bewohnbar macht.

Es ist, als hätte Otto Bartning diesen Text vor Augen gehabt, als er sein Programm für die Notkirchen entwarf. An die Stelle der vormals prächtigen Kirchen sollte eben gerade nicht ein Prachtbau mit großer Orgel stehen, sondern der schlichte Bau selbst sollte ermutigen, über die eigene Not zu sprechen und die Not der anderen zu sehen. Deshalb schriebt er: Die Notgemeinde braucht keine neuen Dogmen und Regeln, und ermahnte: Ihr Jungen, laßt den Pfarrer nicht in Ruhe mit euren wahren Nöten und Fragen, daß sie in der Woche oder auch am Sonntag, im Saal oder auch in der Kirche verhandelt werden, mit aller Aufrichtigkeit und Freiheit, die ja wahrlich nicht Frechheit, sondern Demut ist. Eine Notkirche ist dann ihren Namen wert, wenn aus der tiefsten Not die höchste Verantwortung entwickelt wird. So drückt er es aus.

Man könnte diesen Impuls von Bartning vielleicht so fassen: Not kann ehrlich machen. Sich selbst gegenüber und auch anderen gegenüber. Wenn das geschieht, kann Verantwortung wachsen.

Und andersherum: Wo Not nicht gesehen, von ihr abgelenkt wird, führt dieses Verhalten dazu, Verantwortlichkeit zu verschleiern. Jesaja prangert das Fasten nicht an, weil es per se schlecht wäre. Er prangert es an, weil es nicht zu einer umfassenden Neuausrichtung beiträgt, sondern weil es eingesetzt wird, um die eigene Verantwortlichkeit zu verschleiern. Wo Bartning sich entschließt, keine Prunkgebäude zu bauen, sondern auf das zurückzugreifen, was da ist- die Trümmer der alten Stadtkirche- da kann Verantwortung wahrgenommen werden.

Beide, Jesaja und Bartning, sind sich einig: Ein Wiederaufbau darf nicht um seiner selbst willen geschehen, nicht, um das eigene seelisch-moralische Innenleben zu heben. Sondern Wiederaufbau dient einer bestimmten Haltung dem anderen Menschen gegenüber. Bartning nennt es Demut. Und Ehrlichkeit in Bezug auf die eigene Not. Jesaja nennt es Barmherzigkeit, Solidarität gegenüber den anderen Menschen.

Für Bartning soll es gerade kein feierlich-schöner Raum sein, in dem sich die Gottesdienstgemeinde zum seelischen Komfort versammelt, wie er es nennt. Wir kennen ja das Wort Komfortzone, dieser ermüdende, erschlaffende Rückzug auf das Bekannte, das, was funktioniert, was wir im Griff haben und wo wir uns nicht anstrengen müssen. Gottesdienst und der Dienst am Nächsten verfehlen ihr Ziel, wenn sie es sich in der Komfortzone gemütlich machen. Barting setzt 1949 noch eine Spitze drauf: Eine Notkirche sei nicht dazu da, zum seelischen Komfort, zum „einfach schön sein“, da zu sein. Sie soll die Not spiegeln, mit der Menschen in sie hineinkommen. Ein Zelt, statt einer Kathedrale.

Nun kann man ja fragen: Was hat das mit uns zu tun? Schließlich scheint 1949 weit weg und -natürlich- das babylonische Exil erst recht. Ja und Nein. Aleida Asmann, eine bekannte Kulturwissenschaftlerin, die sich viel mit Erinnerungskultur beschäftigt hat, sagt: Erinnerungsräume sind nicht einfach rückwärtsgewandt, sondern sind angeeignete Vergangenheit. Sie sind produktiv, wenn sie Zukunft erschließen und problematisch, wenn sie Zukunft verschließen. – So Aleida Asmann.

Mit jedem Erinnern, mit jedem Jahrestag stellen wir uns in eine Tradition hinein. Wir drücken damit aus: Mit dieser Geschichte haben wir etwas zu tun. Es ist nicht egal, dass sie geschehen ist. Sie ist Teil an unserer Identität. Sie hat eine Haltung mitgeprägt. Jahrestage, wie heute, sind die Erneuerung dieser Erinnerung, ihre Aktualisierung. Wenn wir heute daran denken, dass der Grund, weshalb auf den Trümmern der Stadtkirche überhaupt ein Kirchengebäude wieder errichtet wurde, dann erinnern wir zum einen an die Solidarität anderer, die dies möglich gemacht hat. Und wir erinnern einen konkreten Impuls, wie mit erlebter Not umgegangen werden kann: Nicht mit dem Rückzug in einen komfortablen Raum, der die Welt möglichst außen vor lässt- sondern durchlässig zu sein für die eigene Not und für die fremde Not. Und: Handfest anpacken, und an dem wiederaufbauen, was da ist.

Wir erleben in Deutschland gerade einen Aufschwung an politischen Ideen, die von der Negierung der deutschen Vergangenheit, des Absprechens von Menschenrechten und Grundwerten, die in Grundgesetz verankert sind, geprägt sind. Sie zeichnen sich durch einfache Lösungen, durch Identifizierung von Sündenböcken, Migrantinnen und Migranten, ohne die die Probleme unserer Gesellschaft schnell lösbar wären. Sie zeichnet sich dadurch aus, die globalen Krisen wie die Klimaerwärmung als fixe Ideen abzuwerten und kleinzureden. So sieht das Verschließen von Zukunft aus, die sich in der rückwärtsgewandten Komfortzone einrichtet. Alles wie früher: Menschen, die dazu gehören und Menschen, die nicht dazu gehören. Traditionelle Männer und Frauenbilder, dazu: das In Zweifel ziehen von demokratischen Regeln und deren Sabotage, die selbst Geschäftsordnungsdebatten wie am Donnerstag in Erfurt unmöglich machen.

Das Gottesbild, das in Texten wie dem unsrigen heute, dem Jesajatext, zum Tragen kommt, kann für uns heute bedeutsam sein, zu einer Orientierung verhelfen. Es erzählt von einem Gott, der für neues Leben, für einen Wiederaufbau aus den Trümmern steht und zwar- und das ist das entscheidende- ohne die Risse zu übertünchen, ohne sein Volk anzuweisen, alles zu vergessen, was mit der Vergangenheit zu tun hat! Nehmt die Vergangenheit ernst, dann erschließt sie euch Zukunft!

Dieser entscheidende Bezug der biblischen Erinnerungskultur wird in dem letzten Satz unseres Textes deutlich: „Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet wart: und du sollst heißen: Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne.“

Was Jesaja hier ausgestaltet, ist ein Bild für die Zukunft, das die Vergangenheit nicht vergisst. Die Lücken werden zugemauert, die Wege ausgebessert. Wer solche Mauern und Wege schon mal gesehen hat, der weiß: Beides bleibt sichtbar. Das Alte und das Neue. Ausbesserungen sind nicht abreißen und neu machen, sondern Lücken stopfen, das Alte so gut es geht weiterverwenden und nicht so tun, als hätte es die Vergangenheit nicht gegeben. Bartning hat dies mit seinen Notkirchen im Grunde genauso gemacht. Er hat die Trümmer gesammelt und darauf ein neues Kirchengebäude errichtet. Er hat die Trümmer sichtbar gelassen. Und auch draußen auf dem Vorplatz sind die Umrisse der alten Stadtkirche noch zu sehen.

Es ist eine Kirche, der man den Schmerz noch ansieht. Lücken stopfen bedeutet, Risse sichtbar zu lassen und nicht übertünchen.

Damit ist gelungen, die Solidarität greifbar und sichtbar zu machen, der sich die Pankratiuskapelle verdankt, und es ist -gerade in dem die Vergangenheit nicht geleugnet und wegretuschiert worden ist, auch ein Zeichen, dass die Zukunft offen steht und gestaltet werden kann.

Der Politikwissenschafter Jonathan White hat mal geschrieben: Demokratische Systeme brauchen Zukunftsvisionen, um zu bestehen. Diese müssen gemeinsam entwickelt werden.

Jesaja gibt uns Bausteine an die Hand: Solidarität, Barmherzigkeit, Vergangenheit wachhalten, damit Zukunft gelingt. Dann gilt die Verheißung Gottes: Dann wird mein Licht eure Dunkelheit durchbrechen.

Top