Als Tristine Rainer 1978 ihr Buch THE NEW DIARY veröffentlichte, war dieser Zeitpunkt zugleich „genau richtig“ und im selben Moment war ihr Buch auch seiner Zeit voraus. Das Buch wurde von Psycholog*innen und dem human potential movement gefeiert, doch der heilsame Aspekt des Schreibens, den James Pennebaker erst 1989 durch seine Forschungstätigkeit in den Vordergrund rückte und klinisch nachweisen konnte, war zwar in ihrem Buch bereits angelegt, hatte aber noch nicht die Validierung durch die Wissenschaft gefunden. Es dauerte bis 1999, bis die medizinische Wissenschaft das Journaling als einen Heilfaktor anerkannte, als nachgewiesen werden konnte, dass Schreiben signifikant zum Aufbau des Wohlergehens beitragen kann, belegt durch eine Studie von Menschen, die an Asthma erkrankt waren.
The New Diary hat sehr früh bereits verschiedene Aspekte des Journaling zusammengetragen, für Tristine Rainer ist Journaling eine kreative, heilende und spirituelle Ressource, die in verschiedenen Disziplinen ihre Kraft entfaltet: In der Medizin, der Psychologie, der Therapie, der Erziehung, in der Rehabilitation, der Spiritualität. Tristine Rainer hat diese unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten bereits sehr früh miteinander gesehen und verbunden. In ihrem Vorwort hat Anaïs Nin 1976 geschrieben: „We taught the diary as an exercise in creative will; as an exercise in synthesis; as a means to create a world according to our wishes, not those of others; as a means of creating the self, of giving birth to ourselves.”
Ein Tagebuch zu führen bedeutet für sie ein persönliches Buch zu schreiben, in dem „creativity, play and self-therapy interweave, foster and complement each other”. Sie grenzt es von einem Verständnis von Tagebuchschreiben ab, das dem Notieren von Ereignissen, dem Festhalten der Vergangenheit und einer Übung in Selbstdisziplin dient. Ihr Verständnis des New Diary ist weit, es ist „a sanctuary where all the disparate elements of a life- feelings, thoughts, dreams, hopes, fears, fantasies, practicalities, worries, facts, and intuitions -can merge to give you a sense of wholeness and coherence.”
Tristine Rainer beschreibt in ihrem Buch elf Art und Weisen, um das Tagebuchschreiben fruchtbar zu machen. Sie unterscheidet dabei vier verschiedene Formen des Ausdrucks und sieben spezifische Techniken. Dabei betont sie, dass es beim Tagebuchschreiben kein richtig und kein falsch gibt, die unterschiedliche Art und Weisen des Tagebuchsschreibens sind für sie effektive Wege im Prozess der Selbsterkundung, sie haben sich bewährt und setzen sich aus der Arbeit unterschiedlicher Menschen zusammen. Auch dadurch zeigt sich das Journal als flexibles Handwerkszeug der Persönlichkeitsentwicklung.
Katharsis, Beschreibung, intuitives-freies Schreiben und Reflektion sind für Rainer die vier Grundelemente des Schreibens, sie entsprechen der vier Möglichkeiten menschlicher Wahrnehmung.
Die Katharsis löst Emotionen aus und ist die Möglichkeit, diese spontan und ungefiltert aufs Papier zu bringen, sie dient mitunter einer emotionalen Reinigung und schützt vor unüberlegten Aktionen (putting the pain in the diary keeps it from destroying a life).
Die Beschreibung übersetzt Informationen, die über die Sinne wahrgenommen worden sind; es das Festhalten von Momenten, die sonst dem Vergessen anheimfallen. Sollen die Beschreibungen zufriedenstellend sein, beinhalten sie sprechende Details. Dabei geht es nicht um das objektive Festhalten von Eindrücken, sondern um das Validieren der eigenen Vision des Lebens: „In describing my experience I am recording not what happended or what exists but how I perceive it. In so doing I define myself. As I create my diary I create myself.“
Das freie-intuitive Schreiben ist die Sprache der Intuition, es ist das zur Sprache bringen eines inneren Bewusstseins, das nicht unter der Kontrolle des Verstandes steht. Die Reflektion, als viertes Grundelement des Schreibens ist eine Möglichkeit der intellektuellen Kontemplation. Die Reflektion ermöglicht die Selbstbeobachtung, die im Journaling oft dem kathartischen Schreiben folgt. Das reflektierende Scheiben hat oft einen zusammenfassenden, vorwärtsdrängenden Charakter und steht oft am Ende der anderen Formen von Tagebucheinträgen.
Neben den vier Grundelementen identifiziert Tristine Rainer sieben weitere Techniken, die für das Journaling von Bedeutung sind: Listen, Portraits, intuitives Malen und Schreiben, gelenkte Phantasiereisen (written form of meditation), Perspektivwechsel, nicht abgesandte Briefe und Dialoge.
Nachdem sie die elf Herangehensweisen erläutert und mit Beispielen versehen hat, folgt ein thematisch strukturierter Teil, der den Einsatz des Journaling in unterschiedlichen Bereichen reflektiert, zum Beispiel zur Stärkung der eigenen Kreativität.
Der Verdienst des Buches von Tristine Rainer liegt in der systematischen Aufarbeitung und Darstellung unterschiedlicher Zugänge und Möglichkeiten des Journaling. Es ist ein reicher Fundus von Überlegungen zu Einsatzmöglichkeiten, souverän führt sie Beispiele an und notiert gleichzeitig oft mögliche andere Optionen der Weiterführung eines Schreibimpulses. Zum Schluss hält sie den großen Vorteil des Journaling fest: Es ist unvorhersehbar, veränderbar und anpassungsfähig. Es lässt sich mit anderen Worten für alles einsetzen: „The diary is a never-ending process of search and discovery. It changes as you change.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Tristine Rainer ist und bleibt mit diesem Buch zu Recht einer der Pionierinnen des Journaling. Ihr Buch zur Hand zu nehmen lohnt sich, auch über vierzig Jahre später! Mit dem Buch zu schreiben ist mehr als lohnenswert!