Eine Erinnerung: Jedes Jahr an Heiligabend sitzen wir in der Reihe hinter den Nachbarn. Wir Kinder spielen miteinander, die Eltern sind gut bekannt. In der Christmette kommt das letzte Lied, alle müssen aufstehen und schmettern Oh, du fröhliche. Ein Ritual – jedes Jahr an Heiligabend. Nur ich schmetterte nicht. Ich weiß nicht, ob mich die Nachbarin nervte, die das Lied so hingebungsvoll mit ihrem Sopran sang, so laut, dass sie sicher auch in den Reihen hinten uns noch zu hören war.
Es kommt mir vor, als hätte ich jahrelang auf den Mund der Nachbarin gestarrt, und mich gewundert, wie man diese drei Strophen so inbrünstig auswendig kennen kann. Ich konnte es lange nicht und hatte es mir zum Sport gemacht, so lange im Gesangbuch zu blättern, bis das Lied vorbei war. Das wäre die erste Gebrauchsanweisung über ein abzuschaffendes Ritual. Man übe sich in unerklärter Verweigerung, bis es vorbei ist. Dabei ist man ist sich selbst treu geblieben, weil man nicht in das große Schmettern eingefallen ist.
Möglichkeit Nummer zwei: Man suche sich einen Beruf, in dem man darüber bestimmen kann, welches Lied zum Schluss an Heiligabend gesungen wird. Ich bin Pfarrerin geworden. Ich hätte die Macht gehabt, das Lied einfach abzusetzen. Doch das war gar nicht so einfach. Denn mein Über-Ich spielte mir regelmäßig Streiche. Hatte ich mich einmal getraut, die Lieder für den Gottesdienst ohne Oh, du fröhliche beim Kantor abzugeben, überfiel mich spätestens zwei Tage später das schlechte Gewissen und ich rief an und wechselte das letzte Lied aus. Etwas grummelnd, aber in Übereinstimmung mit dem Über-Ich, stand ich nun vorne am Altar, konnte nicht so tun, als hätte ich es im Gesangbuch nicht gefunden und öffnete stattdessen lautlos die Lippen. Ein stummer kleiner Protest.
Dritte Gebrauchsanweisung: Verbündete suchen. Ich fragte die Kinder: Welches Lied mögt ihr an Weihnachten überhaupt nicht? Sie nannten sogenannte moderne Lieder (also Lieder aus dem 20. Jahrhundert). Oh, du fröhliche und Tochter Zion waren nicht dabei. Eins meiner Kinder sagte irgendwann mal: Ohne Tochter Zion ist es kein echtes Weihnachten. Bin ich froh, dass sie nicht Oh, du fröhliche gesagt hat!