Skip to main content

Jeden Tag fünf Zeilen. Ich trage sie in meinen 5 Jahres Buch ein. Das neue Buch begann 2021, gerade vervollständige ich das vierte Jahr. Ab 2026 brauche ich ein neues Buch. 
Jeden Tag fünf Zeilen. Da stehen große und kleine Ereignisse meines Alltags drin. Ob ich müde gewesen bin, über wen ich mich gefreut, über wen ich mich geärgert habe. Ein Gedanke zu einem der Kinder, ein unverhoffter Anruf. 
Manchmal, wenn ich abends am Schreibtisch sitze, frage ich mich, ob es die Kleinigkeiten wert sind, auf geschrieben zu werden. Manches kommt mir belanglos vor, banal. Ob mich das im nächsten Jahr noch interessiert, was ich heute aufgeschrieben habe? Dass ich beim Zahnarzt war, ein Buch mit Essays von Susan Sonntag entdeckt habe?
Schon, wenn ich einen Tag überspringe und an einem Abend zwei Tage “nachhole”, merke ich, wie wichtig das Aufschreiben von nur fünf Zeilen Alltag ist: Ich habe nämlich nach zwei Tagen oft komplett vergessen, was ich gemacht habe! Wann war ich mit einem der Kinder beim Arzt? Wann genau kam die mail, über die ich mich gefreut habe? Welches Gespräch hat mich beschäftigt und hat die Stimmung meines Tages beeinflusst? Es liegt nur ein Tag dazwischen, aber das, was ich von dem vorletzten Tag weiß, tendiert mitunter gegen null. Manchmal erschrickt mich das. Dann frage ich mich, wie hetze ich eigentlich durch meinen Alltag, dass mir das Naheliegende so schnell verloren geht? 
Und manchmal (und sogar ziemlich oft!) freue ich mich, dass ich jeden Tag etwas aufschreibe. Ich gewinne dadurch ein Gefühl für meine eigene Lebenszeit. Vor zwei Jahren, am 21. August 2022  habe ich meine Homepage zum Laufen gebracht. „Ach, so lange ist das schon her?“ Und mit dieser Notiz kommt gleich das Gefühl für diese Lebensphase wieder, wie sehr ich überlegt hatte, ob ich das überhaupt mache und wenn ja wie? Wie die Homepage aussehen sollte, welcher Prozess damit für mich angefangen hat und wo ich heute stehe. Und ich bemerke, die Gedanken und Sorgen, die ich mir vor zwei Jahren gemacht habe, haben sich verflüchtigt. Sie hatten ihre Zeit und sind gegangen. Ich stehe an einer anderen Stelle. Genau so macht es mich nachdenklich, wenn ich erkenne, wie lange ich schon an einer Frage rum kaue und manchmal entdecke ich, dass ich ein oder zwei Jahre zuvor schon eine entscheidende Frage an mich selbst gestellt habe, die mir zeigt: Mit dem Thema bin ich kaum weitergekommen, es ist, als ob es in einen tiefen Winterschlaf gefallen wäre und nun wieder aufgewacht ist und ich beunruhigt feststelle, da stockt was und steht still, es ist und bleibt schwierig.  

In solchen Momenten merke ich, wie wichtig diese fünf Zeilen sind. Sie geben mir das Gefühl, dass viel Großes und Kleines in meinem Alltag Platz hat und dass ich beides schnell vergesse- aber es lässt sich wieder einfangen of oft reichen dazu fünf Zeilen. Dazu passt ein Satz, den ich bei Robert Musil gefunden habe: „Die kleinsten Alltagsleistungen setzen viel mehr Energie in die Welt als die seltenen heroischen Taten.“

Oft denke ich, hätte ich doch mehr geschrieben! Aber das steht auf einem anderen Blatt.

Top